Requiem

Der bisher unveröffentlichte Roman von Karl Alfred Loeser musste zu Unrecht so lange warten, um gelesen zu werden. Requiem spielt in der 1930er-Jahren in einer kleinen Stadt in Westfahlen. Das NS-Regime ist seit ein paar Jahren an der Macht und die Entrechtung der Jüd*innen ist in vollem Gange. Bisher konnte der Berufscellist Erich Krakau weiterhin ungestört im Stadtorchester seine Künste präsentieren. Dies jedoch zum Missfallen eines jungen Nazi-Sprösslings, der wenig musikalische Künste, aber durch seine reiche Familie viel Macht geniesst und diese gekonnt einsetzt. Die Freund*innen von Krakau versuchen ihm zu helfen, geraten aber mit der zunehmenden Hetzjagd immer mehr in Bedrängnis. Ein eindrücklicher und beängstigender Roman zu Beginn des schrecklichen NS-Regimes.

Karl Alfred Loeser – Requiem,

Klett-Cotta 2023, 978-3-608-98684-6

Das Schwarze Trikot

Jorge Zepeda-Patterson hat wieder einen fulminanten Roman geschrieben. Diesmal bietet die Tour de France das Setting. Auf der Tour kommt es zu zahlreichen Morden und nach und nach werden Favoriten auf den Gesamtsieg umgebracht. Mittendrin der Edelhelfer Marc Moreau, der seinem Freund und dem Favoriten über die gnadenlose Strecke helfen muss. Nach den ersten Toten erklärt sich Moreau bereit, der Polizei bei den Ermittlungen zu helfen. Dabei gerät er plötzlich selbst unter die Verdächtigen und zuweilen wird ein Gesamtsieg der Tour de France für Moreau möglich. Doch will er diesen wirklich? Ein Roman, rasant wie ein Thriller und spannend bis zum Schluss, wie ein guter Krimi. Die genialen Charakterzeichnungen und die gute Sprache heben sich aber von den beiden Genres deutlich ab.

Jorge Zepeda-Patterson – Das Schwarze Trikot, Elster Salis 2023, 978-3-906903-21-7

Young Mungo,

Nach Shuggie Bain, welcher den Booker Preis gewann, kommt Stuart Douglas gleich mit einem neuen hochkarätigen Roman daher. Auch Young Mungo spielt in Glasgow, doch diesmal in den 1990er-Jahren. Die Geschichte ist wiederum traurig, brutal und bitter, aber doch mit einigen komischen und erheiternden Momenten und einer schönen Liebesgeschichte. Mungo passt mit seiner weichen und sensiblen Art nicht ins raue East End von Glasgow. Hier herrschen Kämpfe zwischen Celtic und Rangers, zwischen Katholiken und Protestanten. Als sich Mungo mit James anfreundet und sich in diesen verliebt, bringt dies die beiden bald in Gefahr.

Stuart Douglas – Young Mungo

Hanser, 2023, 978-3-446-27582-9

Das Ende ist nah

Der Erstling von Amir Gudarzi hat es in sich. Er beschreibt unter anderem die bereits wieder vergessenen Proteste im Iran 2009. Diese wurden, wie so viele Proteste im Iran, äusserst brutal und blutig zerschlagen. Der Protagonist A. ist aktiver Teil dieser Proteste und zeigt den Leser*innen auf, wie das Regime auf diese reagiert. Schliesslich muss A. aus dieser Hölle fliehen. Doch wartet in Österreich alles andere als das Paradies auf ihn. Hier muss er sich durch das rassistische und von Schikanen durchtränkte Asylsystem kämpfen. Zunehmend verliert er die Hoffnung und den Glauben an ein Leben in Ruhe und Würde. Auch die zeitweilige österreichische Freundin ist mehr ein Klotz denn eine Hilfe für A. Sie versucht ihn in Schubladen zu stecken und bedrängt ihn. Ein sprachlich wunderbarer Roman mit vielen bitteren Momenten und doch immer wieder Hoffnung.

Amir Gudarzi – Das Ende ist nah,

DTV 2023, 9783423290340

Ilva Fabiani: Meine langen Nächte

Die Autorin hat drei Jahre für dieses Werk recherchiert und wurde in Italien mehrfach ausgezeichnet.

Die Protagonistin Anna kommt aus einem wohlhabenden liberalen Haushalt. Die Familie protzt nicht mit ihrem Reichtum und verbringt die Sommer häufig im bescheidenen Kurort Salzgitter. Das beschauliche Aufwachsen von Anna wird zunehmend von nationalsozialistischen Tönen in ihrem Umfeld gestört. Die Familie kann schliesslich ihre Begeisterung für Hitler und den Nationalsozialismus nicht verhindern und Anna driftet immer weiter ab. Sie bricht ihr Medizinstudium ab und geht nach Göttingen. Hier wird Anna „NS-Schwester“, oder braune Schwester, voller Überzeugung widmet sie sich in Göttingen der Zwangssterilisation. Erst als der französische Medizinstudent Thierry auftaucht und Anna sich in ihn verliebt, geraten ihre Überzeugungen ins Wanken.

Ilva Fabiani – Meine langen Nächte

Steidl, 2023, 978-3-96999-198-5

Mattanza

Die kleine süditalienische Insel Katria richtet ihr Leben seit jeher nach dem Meer. Der Thunfisch sichert jährlich die Einkommen der Einwohnenden. Dieser Thunfisch wird traditionell vom Rais angeführt. Als dieser keinen männlichen Nachfolger hat, wird zum ersten Mal in der Inselgeschichte eine Frau zum neuen Rais. Nora muss sich gegen die anderen Fischer beweisen. Aber auch zunehmend mit modernen Problemen, welche die Insel heimsuchen und bedrohen, auseinandersetzen. Ein schöner, aber auch trauriger Roman, welcher auf 192 Seiten viele wichtige Themen bespricht. Seien es patriarchale Rollenbilder, Tourismus, welcher Veränderungen bringt, Firmenbesitzer*innen, welche nur den eigenen Profit interessiert, die Festung Europa, welche Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken lässt, oder viel mehr.

Germana Fabiano – Mattanza

Mare 2023, 978-3-86648-670-6

Ein ehrenhafter Abgang

Éric Vuillard ist in Frankreich ein bekannter und mehrfach ausgezeichneter Autor. Im deutschsprachigen Raum wird er zunehmend bekannter. Sein Mix zwischen historischen, eher unbekannten, Tatsachen und romanhaften Fragmenten hat ihm ein eigenes Genre eingebracht. Grosse Ereignisse serviert Vuillard in kleinen Häppchen. Im aktuellen Buch spielt der Abzug Frankreichs aus Vietnam die Hauptrolle des Buches. Vuillard zeigt dabei schonungslos die einzelnen Interessen der politischen Persönlichkeiten Frankreichs auf. Dabei geht es hauptsächlich um Geld. Das Kapital bestimmt einen Grossteil der Entscheidungen. Spannend und tiefgründig und insbesondere ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, zeigt Vuillard die Kolonial- und Kapitalinteressen Frankreichs in Vietnam auf. Nicht nur sprachlich ein Muss zum Lesen.

Éric Vuillard – Ein ehrenhafter Abgang,

Matthes + Seitz, 2023, 978-3-7518-0908-5

Die Netanjahus

Der Protagonist Ruben Blum ist der einzige Jude am kleinen Corbin College. Der Historiker beschäftigt sich aber nicht mit der Geschichte des Judentums, sondern mit Steuer- und Finanzgeschichte. Durch die Ernennung in eine Kommission, welche die Neuanstellung von Ben-Zion Netanjahu berät, wird er dennoch dazu verdonnert, sich mit der Geschichte des Judentums auseinanderzusetzten. Dass er zusätzlich die ganze Familie beherbergen muss, wird für ihn zum Graus. In sehr humorvoller und überspitzter Form porträtiert Cohen die Familie Netanjahu. Dennoch kommen dabei einige unangenehme Tatsachen über die Netanjahus ans Licht. Ein sprachlich sehr eleganter Roman, der 2022 den Pulitzerpreis gewonnen hat.

Joshua Cohen- Die Netanjahus

Schöffling & Co, 2023, 978-3-7317-6224-9

Casa Conti

Der bereits 1944 veröffentlichte Roman der umtriebigen Autorin Aline Valangin spielt in einem kleinen Dorf im Tessin. Nach langen Jahren in Mailand kehrt Alba in ihren Heimatort zurück zu ihrem Vater. Die Rückkehr wird von ihrer Schwester kritisch beäugt. Alba fühlt sich weniger willkommen als gewünscht. Auch stellt sich die Frage, wie lange sie überhaupt bleiben will und kann. Zentrum des Romans ist die sagenumwobene Villa Conti. Albas Vater hat diese bereits vor Jahren erworben und seither haben viele Dorfbewohner*innen ein Auge auf das Haus geworfen. Der plötzliche Tod des Vaters Giuolio sorgt dann auch umgehend für einen Erbstreit um die Villa. Hierbei kommen, aufgrund der patriarchalen Strukturen, aber nur die Männer der beiden Schwestern in den Genuss, über das Erbe zu verhandeln. Ein eindrücklicher und sprachlich schöner Roman, welcher einen guten Einblick in die damalige Zeit und deren Verhältnisse gibt.

Aline Valangin – Casa Conti

Limmat Verlag 2022, 978-3-03926-040-9

Violeta

Die Protagonistin Violeta del Valle schreibt ihrem Enkel im Jahre 2020 einen langen Brief. In diesem blickt Violeta auf ihr 100-jähriges Leben zurück. Bereits bei ihrer Geburt wütet die Spanische Grippe, doch die Familie übersteht diese einigermassen unbeschadet. Anders als die Weltwirtschaftskrise, welche den Reichtum der Familie zu Nichte macht. Neben der eindrücklichen Familiengeschichte, welche Violeta auch immer wieder mit dem Patriarchat in Konflikt bringt, durchleben die Leser*innen mit der Protagonistin 100 Jahre Weltgeschichte. Diese streift Allende immer wieder, bis sie dann zumindest beim faschistischen Putsch in Chile ausführlicher wird. Die Diktatur Pinochets und die Schrecken dieser nehmen mehr Platz ein als andere historische Ereignisse. Die Protagonistin blickt zufrieden auf ihr ereignisreiches Leben zurück und das ist auch die Stärke des Buches. Violeta lässt sich von all den Niederschlägen nicht entmutigen und geht ihren Weg.

Isabel Allende – Violeta

Suhrkamp 2022, 978-3-518-43016-3